Die Seenlandschaften der schwedischen Provinz Värmland, die Ruhe und Einsamkeit in den Wäldern des Glaskogen, sie haben uns buchstäblich nicht mehr losgelassen. Also blieben wir. Der Zwischenstopp auf dem Weg quer rüber nach Stockholm und zu den Schären wurde ohne lange zu überlegen einfach gestrichen. Damit durchkreuzen wir nicht nur das bisschen Plan, das wir hatten, sondern auch fast komplett Schweden in einem Wusch. 385 Kilometer Fahrtweg stehen uns heute bevor und es heißt sich zu verabschieden. Herzallerliebstes Värmland, ade! War schee!
3. Stadt, Land … Schären
Von Burgen & Baustellen
Dreieinhalb Stunden später haben wir es fast geschafft. Auf der E20 passieren wir die südlichen Ufer des drittgrößten Sees Schwedens, Mälaren. Über Stockholm und den vorgelagerten Schären-Garten reichen seine Wasserwege bis hinaus in die Ostsee. Zersplittert in Einzelteile wie eine kaputte Glasscheibe ist der See durchzogen von vielen winzigen Inseln, Halbinseln und Einbuchtungen. Die Gripsholmbucht ist eine davon. Wenn ich erwähnen würde, mir komme der Name bekannt vor, würde mich das vermutlich als Zuschauerin des ZDF-Herzkino mit Inga Lindström* in bester Tränendrücker-Form outen. Insofern lass ich’s bleiben. Aus verschiedensten Gründen jedenfalls waren wir der Meinung, wir sollten dort Halt machen.
Nicht mal 4000 Menschen bewohnen das Örtchen hier in der besagten Bucht nur 60 Kilometer vor Stockholm. Mariefred. Von einem kleinen historischen Dampfzug werden wir tuckernd und prustend entlang Felder und Wiesen in die verwinkelte Ortsmitte geleitet. Noch bevor wir dort ankommen, blitzen zwischen jungen Laubbäumen am Straßenrand und roten Holzhäusern die alten Steinmauern von Schloss Gripsholm in Dornröschen-Rot hindurch. Eingebettet in eben dieser kitschigen und doch realen Schweden-Idylle, die man schnell als ersponnen und weltfremd abtut.
„Da steht Gripsholm. Warum bleiben wir eigentlich nicht immer hier? … für immer: blaue Luft, graue Luft, Sonne, Meeresatem, Fische und Grog – ewiger, ewiger Urlaub.“
Schloss Gripsholm*, Kurt Tucholsky 1931

Dornröschen – namentlich Sophie Magdalene (1746–1813) – lebte hier an der Seite ihres Mannes Gustav III. eher so semi-glücklich bis an ihr Lebensende. Seit 1870 werden die 65 Zimmer hauptsächlich noch zu Museumszwecken genutzt.
Es ist 17 Uhr durch und die Burgtore sind bereits seit gut einer Stunde verriegelt. Ein Kaffee nach der langen Fahrt war definitiv notwendig und hatte ganz klar Vorrang. Anlässlich der mir sehr sympathischen schwedischen Kaffeekultur „Påtår ingår“ – zu deutsch: Nachschenken inbegriffen – sind’s dann doch zwei, drei Tässchen mehr geworden. Die inneren Werte von Schloss Gripsholm bleiben uns daher verborgen. Wir kommen drüber weg. Spazieren draußen in der Sonne durch die hübschen Gassen Mariefreds. Schlendern am Hafen entlang und beobachten, wie die kleinen Sportboote beim Anlegemanöver das reflektierte Abbild der Schloss-Silhouette durchziehen. Und wir machen uns bei allen fotografischen Mühen um die beste Schloss-Enten-Komposition zum Vollhorst.
In Inga Lindströms „Auf den Spuren der Liebe“ diente es als Polizeiwache. In Wahrheit aber ist das knallgelbe Gebäude im Dorfkern von Mariefred das Rathaus.
Die Kleinstadt-Pause auf dem Weg von der Wildnis ins Großstadtgetümmel hat gut getan. So wird’s ein langsames Ankommen … dachten wir. Da wussten wir ja auch noch nicht, dass unser Stockholmer Hotel sich als Großbaustelle entpuppen würde. Hinter einem mit Bauzäunen, Gerüst und Absperrband verbarrikadierten Haupteingang verbirgt sich ein Rohbau. Schubkarre, Schaufel und Zementsäcke schmücken das, was wohl die Lobby sein soll. Abgetrennt mit einer Plane mimen ein staubiger Plastiktisch und … Hatschi! Gesundheit. … ein klappriger Bürostuhl die Rezeption. Aha! Deswegen das Schnäppchen.
Dicke Luft wegen Baustaub und ohne Bett für die herannahende Nacht – so startet Stockholm! Wie ärgerlich. Also … vor allem dass ich vor Schreck völlig verpasse, das ganze Baustellen-Schlamassel fotografisch festzuhalten. Welches Bild auch immer jetzt in deinem Kopf rumschwirrt, glaub mir, es ist schlimmer. Fairerweise muss ich der guten Frau an der Einweg-Rezeption zugute halten, dass sie sich so richtig ins Zeug legt und schließlich der Konkurrenz noch zwei Nächte für uns abschwatzen kann.
Stockholm, oder „Where the f… is Carl Philipp?“
So blöd sind die gar nicht, diese roten, oben ohne Hop-On Hop-Off Doppeldecker-Busse – für den maximalen Überblick bei minimalster Vorbereitung. Im Venedig des Nordens funktioniert das Prinzip auch per Boot. Machen wir und schnell stelle ich fest – Stockholm liegt mir. Es ist so gar nicht Berlin. Sortiert und gemütlich. Da weiß ich, was ich bekomme, wenn ich wohin gehe.
53 Brücken verbandeln 14 Inseln zu einem Stadtgebiet. Södermalm – Kunst und Szenekiez. Östermalm – Schickimicki. Norrmalm – Shopping und zu viel von allem. Djurgården – Spaziergänge durch Museen, Tier- und Naturparks. Und ganz im Zentrum die Altstadt „Gamla Stan“ – Kopfsteinpflaster, erdfarbene Giebelhäuser und schmale Gassen. Sie war es, die zuerst da war. Als eigene kleine Insel formt sie das Herz der Schweden-Hauptstadt. Alle Hauptverkehrsadern für Bus, Bahn, Boot und Passant führen über den zentralen Verkehrsknotenpunkt Slussen am Zugang zur Altstadt hinein ins Herz und wieder hinaus in jeden einzelnen Bezirk des ganzen lebendigen Stadtgebildes.

Das Zentrum der Stadt ist auch das Zentrum der Macht. Arbeitsplatz: Palast. Der barocke Königs-Kasten – quadratisch, praktisch, gut – scheint mir auf den ersten Blick weniger pompös als ich es für einen Barock-Bau erwartet hätte. Er wirkt von Wasser-, Straßen- und Baustellenchaos in die Insel-Ecke gedrängt kleiner als er ist. Mehr Luft würde ihm vielleicht gut tun, ihn besser zur Geltung bringen. Das haben sich möglicherweise auch die Royals gedacht, als sie 1982 abgewandert sind aufs Land. Den Prinzipien des Barock entspricht das Stockholmer Schloss jedenfalls. Symmetrie und architektonische Mitte sind vorhanden. Skulpturen, Bronzereliefs und korinthische Säulen zieren primär die Fassade des Südflügels, den zur Zeit allerdings ein Baunetz umhüllt – für umfassende Fassadenrenovierungen. Und drinnen, da warn wir nicht. Macht aber nix, Carl Philipp auch nicht.
Als schwedisches Ersatzschnittchen gönnen wir uns eine Kanelbullar auf dem eigentlich ziemlich kleinen „großen Platz“ nicht weit vom Schloss. Stortorget. Hübsche Kaufmannshäuser, errichtet auf mittelalterlichen Grundsteinen, verleihen dem einstigen zentralen Markt- und Tummelplatz Stockholms ein schmuckes Zierkrönchen.
Was heute sauber herausgeputzt, war einst blutbesudelt. Herbst 1520. Dänenkönig Christian II. sorgte nun, da er sich endlich auch die schwedische Krone krallen konnte, für ein abscheuliches Gemetzel und ließ einige seiner Widersacher im Stockholmer Blutbad hier auf dem Stortorget enthaupten. Nutzte alles nichts. Drei Jahre später hatten die Schweden mithilfe des Freiheitskämpfers Gustav Eriksson Wasa den tyrannischen Machtprotzen dann auch wieder los und einen unabhängigen Staat. Und wir haben heute ein Wasa-Schloss – auch bekannt als Gripsholm, ein Wasa-Museum mit einem ziemlich eindrucksvollen Wasa-Schiff, einen Wasalauf. Wasa-Knäckebrot? Jep, vermutlich auch das.

Die Marktplatz-Idylle im Lichtermeer der Abenddämmerung strahlt in trügerisch friedlichem Schein. Stortorget. 82 weiße Steine zieren das auffällig rote Haus mit der Nummer 20 und dem hübschen Giebeldach am „großen Platz“ in Stockholms Altstadt. Einen Stein für jeden Kopf der rollen musste, als der Dänische König Kristian II 1520 während eines vorschriftsmäßigen Tobsuchtsanfalls einige seiner Widersacher kurzerhand grausam hinrichten ließ. So sagt es die Legende. Die Grundmauern des Hauses wurden jedoch schon wesentlich früher – um die 1479 – errichtet. Bauherr und damit verantwortlich für die Neugestaltung im nordischen Renaissancestil war Johan Eberhard Schantz. Der damalige königliche Sekretär fügte beim Umbau im Jahre 1628 die weißen Schmucksteine hinzu und verleiht dem Schantzka huset damit neben dem Legendenstatus auch seinen Namen.
Ab auf die Schären!
Zwei Nächte. Die Galgenfrist ist um, wir müssen raus … aus dem noblen aber auch nicht arg charmanten Scandic Talk im Stadtteil Alvsjo zur offensichtlich einzigen noch freien Unterkunft im Großraum Stockholm: Bosön auf der Schären-Insel Lidingö – nur 15 Fahrminuten außerhalb des Zentrums – ist Schwedens nationaler Olympiastützpunkt. So richtig mit … Sport. Violas alt eingesessener, sportlicher Ehrgeiz wittert den in der Luft liegende Schweiß körperlicher Anstrengung sofort und springt wie zu erwarten im Laufschritt direkt auf den Zug auf. Ich hinterher. Das Wetter ist so lala – bei 10 Grad Celsius max. Feinster Meeresdunst liegt in der Luft und ziert meinen blassen Teint mit Gänsehaut. Die Bewegung wärmt. Hin und wieder auch ein einzelner Sonnenstrahl. Wir folgen der gut ausgeschilderten 2,7-Kilometer-Schluffi-Runde auf Wald- und Wiesenwegen entlang der Ostseebucht Askrikefjärden. Auf dem von viel Grün umgebenen Komplex gibt es scheinbar alles, was das Athleten-Herz begehrt – auch diverse beschauliche Fleckchen zum Entspannen.
Am Ufer stehen Kayaks, Segel- und Motorboote zur Miete bereit und fiebern genau wie wir sommerlichen Temperaturen entgegen. Wenn strahlender Sonnenschein das blitzsaubere Süß–Salzwassergemisch wärmt und zum funkeln bringt, findet man sie zwischen zigtausend Inseln, kleinen bewachsenen Landflächen oder kargen Felskuppen des Stockholmer Schären-Garten wieder. Doch statt ’ner Paddeltour durchs Insel-Labyrinth brechen wir trotz (oder gerade wegen) der zunehmend schlechteren Wetterlage auf zu einer Schären-Hopping-Rundfahrt. Die großen „ö“ (schwedisch für „Insel“), das sind die großen bewohnten Inseln nahe dem Festland und mit dem Auto gut zu erreichen.
Raus aus Stockholm auf der E18 und über die Landstraße 274 ab nach Vaxön zur angeblich belebten Schären-Hauptstadt Vaxholm. Lebendig ist hier Ende Mai allerdings gar nichts. Zu früh im Jahr, zu nass, und überhaupt … alles zu. Keine Menschenseele weit und breit. Kein einziges Café hat geöffnet. Das kleine Heimat-Museum in der schönen Bucht am Norrhamn oder die Festung Vaxholm … „stängt“, geschlossen. Ich gönne mir einen original schwedischen Regenmantel, stilsicher in knallgelb. Einfach so, weil der Laden auf hat. Und weil die Schauer kräftiger werden. Die Einöde mag ich ja. Und mit etwas gutem Willen kann man durch die dichte, tiefhängende Wolkenschicht Saltkrokan schon irgendwie auch erahnen.
„Über dem Wasser lag ein weicher Regenschleier, alles war von so wehmütiger Schönheit. Von allen Büschen und Bäumen tropfte es, und die Luft roch nach noch mehr Regen und nach Erde und Salzwasser und nassem Gras.“
Astrid Lindgren: Ferien auf Saltkrokan

Mit der Fähre setzen wir über nach Rindö und weiter nach Värmdö, peilen dort einen rätselhaften Ort an. Ans Herz gelegt wurde er uns in der Touristeninfo in Vaxholm. Die war auf. Rechts und links des Weges wechseln sich Weideflächen ab mit Waldstücken. Gelegentlich sorgt ein kompaktes Holzhäuschen oder ein Schuppen für einen roten Farbtupfer in der nicht enden wollenden Palette an Grüntönen. Etwa dort, wo die Straße dem Ostufer Värmdös am nächsten kommt erreichen wir schließlich das Anwesen. Siggesta Gård.
Die ehemalige Farm aus dem späten 19. Jahrhundert wurde schick renoviert und bis ins kleinste Detail im typischen Skandi-Look durchgestylt. Gemütlich. Funktional. Unelitär. Geschäftsführerin Susanne Blomberg setzt auf Reduktion und „Natur pur“. Die Alpakas auf den Weiden ums Haupthaus stören sich wenig an der nicht enden wollenden Regendusche. Ziegen und Pferde verkriechen sich in den angrenzenden Stallungen, und wir, wir nutzen die Wetterkapriolen geschickt, um den hübschen Hofladen zu plündern. Ich liebe es.

Stadt, Land … Schären im Überblick
In 385 Kilometern aus der Wildnis des Glaskogen (B) in den Großstadtdschungel Stockholm (C). In der Hauptstadt verbrachten wir fünf Nächte. Fahrzeit insgesamt: etwa 4,5 Stunden.
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Dem Tucholsky-Zitat kann ich mich nur anschließen – Warum nicht für immer bleiben? :D Deine Bilder gefallen mir ausgesprochen gut! Lustige Idee mit dem Abba-Museum. ;)
Durch Zufall bin ich auf Deine Seite gestoßen und finde den Bericht superschön. Ich war das erste Mal mit meiner Freundin 1962 in Schweden und das Land lässt mich seit dem nie mehr ganz aus seinen Fängen. Seit 55 Jahren verheiratet, ist auch mein Mann schon seit Jahren Schwedenfan und zu meiner großen Freude haben meine Kinder und Enkelkinder auch heute noch Kontakt zu den Kindern und Enkeln meiner schwedischen Freunde (von denen die der ersten Stunde allerdings leider nicht mehr leben).
Danke nochmals für den wunderschönen Bericht!
Hallo Anke,
vielen lieben Dank für deine nette Nachricht :))
Mich hat das Land bei meinem viel zu kurzen Besuch auch sofort gepackt. Ein Traum von mir ist nach wie vor, im eigenen Camper nach und durch Schweden zu reisen. Letztes Jahr habe ich mir nach Jahre langem Sparen nun endlich einen VW T4 gegönnt. Leider gab es seit dem Kauf schon einige Baustellen. Sobald die Karre aber fit ist, wird mein erstes großes Reiseziel Schweden sein.
Viele, liebe Grüße aus dem Schwarzwald,
Claudi